In Kooperation mit Jahn und Jahn München
25. November – 23. Dezember 2022
Mit dem Wiener Aktionismus, den Günter Brus, Hermann Nitsch, Otto Mühl und Rudolf Schwarzkogler in den frühen 1960er-Jahren begründeten, formulierten die Künstler auf höchst radikale Weise ein erweitertes Verständnis von Malerei, deren Tabu brechende Sujets auch vor dem Hintergrund eines damals äußerst wertkonservativen Klimas in Nachkriegsösterreich zu lesen sind.
Insbesondere bei Hermann Nitsch ist die Malerei als Ausgangspunkt seiner künstlerischen Vision eines Gesamtkunstwerks zu betrachten. Nach seiner Ausbildung an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien, arbeitete er als Assistent am Technischen Museum. Dort entwickelte er bereits die ersten theoretischen Überlegungen zu seinem Orgien Mysterien Theater, die er 1957 zunächst schriftlich zusammenfasste. Er beschrieb darin sein Vorhaben, ein „episches Theater“¹kreieren zu wollen, das konkrete sinnliche Erfahrungen evozieren sollte, um auf diesem Weg zu Einheit und Grund des Seins vorzudringen. Nitsch wollte das Sein in der Gegenwart unmittelbar durch das Kunstwerk erlebbar machen, indem dieses durch die komplexen Wesenheiten seiner Farben und Formen in Erscheinung tritt.
Inspiriert von der informellen Malerei, die den Zufall nicht nur als Teilelement innerhalb des Werkprozesses miteinbezog, sondern den gesamten Prozess zum wesentlichen Bestandteil des Artefakts erklärte, arbeitete Nitsch an verschiedenen Techniken, die das Begreifen der puren Farbmaterie ermöglichen sollten. Dazu agierte sich der Künstler physisch auf der Leinwand aus und arbeitete sich mit allen Körperteilen an ihr ab. Statt mit dem Pinsel wurden die Farben leidenschaftlich mit den Händen aufgetragen, verrieben und verschüttet. Daraus resultierte, dass sich die Inhalte der Bilder von konkreten Darstellungen oder Abbildungen loslösten und an ihre Stelle ein an Raum und Zeit gebundener Produktionsvorgang trat, welcher theatralisch inszeniert in Farbe und Form sichtbar wurde. Alle Substanzen, die während des Malaktes auf waagerechten und senkrechten Bildflächen verschüttet wurden, gewannen eine eigene Dynamik. Sie flossen in alle Richtungen, bis sie eintrockneten und sich die Formwerdung der Materie als konkreter Zustand auf der Leinwand fixierte.
Während Nitsch in seinen ersten Schüttbildern noch viele verschiedene Farben einsetzte, verwendete er zwischen 1960 und 1979 – mit einigen Ausnahmen – ausschließlich Rot und arbeitete vorwiegend seriell in einem Format von 200 x 300 cm. Oft tränkte er den Grund der Leinwand zuerst in Blut, bevor mehre Ebenen leuchtend roter Ölfarbe darüber geschichtet wurden. Anhand der verschiedenen Nuancen von Dunkel- bis Hellrot zeigt sich das mannigfaltige Spektrum jener Farbe, die für Nitsch von besonderer Bedeutung war. Sie stellt in ihrer Intensität auch eine Analogie zur Substanz des Blutes her, das essenzieller Bestandteil des Orgien Mysterien Theaters ist. Blut, das außerhalb des medizinischen Tätigkeitsbereiches nur selten zu sehen ist, reizt die Sinne besonders stark und dient damit als Verbindungsglied innerhalb seines Werkes. Der direkte Kontakt mit Blut kann einerseits Ekel und Abscheu, aber auch Faszination und Lust als Reaktion hervorrufen. Wie ein roter Faden zieht sich der Mythos Blut durch die Legenden und Religionen, was die zeitlose Brisanz des Themas deutlich unterstreicht. Fest steht, dass Blut für den menschlichen wie tierischen Körper lebensnotwendig ist. Nitsch, der mit seinem Werk das Leben sinnlich erfahrbar machen wollte, hielt den Einsatz realen Tierblutes demnach für besonders geeignet. Er sah sich damit in der Tradition altmeisterlicher Malerei verankert, in der die pointierte Darstellung schauderhafter und grausamer Sujets durchaus üblich war. In seinem Aktionstheater ging der Künstler sogar so weit, dass er reale Tierkadaver einsetzte und diese von den Akteur:innen ausweiden ließ. Auf diese Weise sollte sich der direkte körperliche Kontakt mit den Gedärmen als rauschhaftes, sich „dionysisch gebärdendes Ereignis“²sowohl auf die teilnehmenden Akteur:innen als auch auf die Zuschauer:innen auswirken, damit deren „exzessives ausagieren im lauf des spiels zum begreifen der farbe sublimiert“³werden konnte.
Am 18. November 1960 realisierte Nitsch seine 1. malaktion im Technischen Museum in Wien, bei der sich der Vorgang des malerischen Werkprozesses erstmals vor Publikum als dramatisches Schauspiel ereignete. Dabei war es üblich, dass alle Personen, die an einer Malaktion mitwirkten weiße Leinengewänder trugen, auf denen sich die Farbspuren, die während des körperlich exzessiven Schaffensprozesses entstanden waren, abzeichneten. Einige der Gewänderwurden im Anschluss ausgewählt und als Relikte auf Leinwände installiert. Bis zum Jahr 1963 folgten noch sieben weitere Malaktionen, bevor sich der Künstler entschied, für zehn Jahre Abstand von der malerischen Praxis zu gewinnen. Er wollte verstärkt an der Weiterentwicklung seines Gesamtkunstwerks von der Aktionsmalerei hin zu einem realen Ereignis, dem Aktionstheater, arbeiten. Die frühen Malaktionen, die den Malprozess als performativen Akt herausstellten, sind demnach als Weiterführung der Malerei und Überleitung zu Nitschs Aktionstheater zu verstehen, das außerhalb der Bildfläche in Raum und Zeit stattfand. Sie waren für Nitsch psychoanalytische Prozesse, die er innerhalb seines gesamten Werkes als „visuelle Grammatik der Aktionen auf einer Bildfläche“⁴ bezeichnete.
Die Ausstellung widmet sich in erster Linie den Werken, die Nitsch ab den 1990er-Jahren realisierte, als er sich wieder verstärkt der Malerei zuwendete und das gesamte Farbspektrum innerhalb eines Bildes einsetzte. Dabei waren insbesondere die liturgischen Farben Grün, Violett und Blau, sowie Gelb und Weiß, die mit der Auferstehung assoziiert werden können, für den Künstler relevant. Die Farben wurden nicht mehr nur auf die Leinwand geschüttet und gespritzt, sondern teilweise als dicke und sämige Paste mit den Fingern auf der Leinwand verteilt. Dabei wurden die verschiedenen Schichten kraftvoll ineinander verrieben. Aus den ekstatischen Malbewegungen entstanden Farbräume mit reliefartiger Haptik, die der Leinwand eine ungewöhnliche Plastizität verleihen. Die Finger und Fußspuren, die sich sich während des Werkprozesses tief in die Farbpaste gedrückt haben, zeugen von physischer Anstrengung und sind als Zeichen der Einheit von Körper und Geist zu lesen. Es lässt sich beobachten, dass Nitsch in seinem malerischen Spätwerk immer stärker die ihn umgebende Natur reflektierte. Seine Bilder wurden heller, leuchtender und farblich vielfältiger. Gekonnt bündelte er in ihnen das Licht der Farben, die intensiv, dynamisch, freudvoll und leicht erscheinen.
Während der Bayreuther Festspiele im Jahr 2021 fand Nitschs Auseinandersetzung mit Farbe ihren Höhepunkt. Es war die letzte Malaktion, die der Künstler noch vor seinem Tod am Ostermontag des folgenden Jahres, öffentlich aufführte. Um eine konzertante Version von Richard Wagners „Die Walküre“ szenisch zu begleiten, konzipierte er mit einem Team aus insgesamt 16 Akteur:innen für jeden der drei Akte eine umfassende Malaktion. Pur, wie die gewaltigen Stimmen der Sänger:innen, die sich mit ihren schwarzen Gewändern perfekt in Nitschs Aktionsästhetik fügten, ergossen sich hunderte Liter Farbe über die Bühne. Von großformatigen Leinwänden floss eimerweise Farbe auf den Bühnenboden hinab. Der Partitur des Künstlers folgend verwandelten sich die Klänge in eine strahlend üppige Farbpracht. Umgekehrt ergab sich durch das laute und kraftvolle Peitschen der Farbe auf den Bühnenboden ein neues eigenes Bild. Ganz im Sinne eines Gesamtkunstwerks, dessen Vision Nitsch und Wagner einte, führten der öffentlich dargebotene Malakt und die rohe Gestalt von Farbe und Klang dazu, dass die Bilder der „Walküre“ sich nicht allein auf äußere Erscheinungsbilder gründeten, sondern vielmehr auch tief ins Innere der einzelnen Zuschauer:innen trafen.
Mit dem Orgien Mysterien Theater hat Nitsch ein Werk hinterlassen, das in seiner Vielschichtigkeit dazu einlädt, die verschiedensten Gefühlsregungen, die das Leben birgt, intensiv zu registrieren. Schockmomente, Aspekte von Ekel, Leid, Trauer und Wut sind dabei bewusst mit eingeschlossen, denn sie machen das Leben in all seinen Facetten erst vollständig und bedingen obendrein ihr Gegenteil. Insbesondere Nitschs Malerei ist die farbgewordene Freude am Dasein, das sichtbare Sein in allen Dingen und Wesen und Vergnügen an der Sinnlichkeit. (© Julia Moebus-Puck)
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¹Spera, Danielle: Hermann Nitsch. Leben und Arbeit, Wien 2005, S. 52.
²Aigner, Carl: Hermann Nitsch. Die Farbenlehre des Orgien Mysterien Theaters, Wien 2007, S. 69.
³Ebd., S. 70f.
⁴Spera, Danielle: Hermann Nitsch. Leben und Arbeit, Wien 2005, S. 87.
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In cooperation with Jahn und Jahn Munich
25 November – 23 December 2022
With Viennese Actionism, which Günter Brus, Hermann Nitsch, Otto Mühl, and Rudolf Schwarzkogler founded in the early 1960s, the artists formulated an expanded understanding of painting in a highly radical way, with taboo-breaking subjects that are also to be read against the background of the extremely value-conservative climate in post-war Austria.
In the case of Hermann Nitsch in particular, painting is to be seen as the starting point of his artistic vision of a Gesamtkunstwerk. After his training at the Institution for Graphic Education and Research (die Grafische) in Vienna, he worked as an assistant at the Technical Museum. It was there that he developed the initial theoretical considerations for his Orgies Mysteries Theatre, which he first summarised in writing in 1957. In this text, he described his intention to create an ‘epic theatre’ ¹ that would evoke concrete sensual experiences in order to penetrate to the unity and reason of being. Nitsch strove to make being in the present directly experienceable through the work of art by making it manifest through the complex entities of its colours and forms.
Inspired by gestural Informel painting, which not only included chance as an element within the working process but also declared the entire process to be an essential component of the artefact, Nitsch worked on various techniques that would enable the pure colour substance to be grasped as such. To this end, the artist performed physically on the canvas, working on it with all parts of his body. Instead of using a brush, the paints were passionately applied, rubbed, and poured with his hands. As a result, the contents of the paintings became detached from concrete representations or images and were replaced by a production process bound to space and time, which became theatrically staged and visible in both colour and form. All the substances that were poured onto horizontal and vertical picture surfaces during the act of painting gained a dynamic of their own. They flowed in all directions until they dried and the formation of matter became fixed as a concrete state on the canvas.
While Nitsch still used many different colours in his first Schüttbilder (Poured Paintings), between 1960 and 1979 he used – with a few exceptions – exclusively red and worked predominantly in series, favouring a format of 200 x 300 cm. He often first saturated the canvas with blood before applying several layers of bright red oil paint over this. The various nuances from dark to light red reveal the manifold spectrum of this colour, which was of particular importance to Nitsch. In its intensity, it also establishes an analogy to the substance of blood, which is an essential component of the Orgies Mysteries Theatre. Blood, which is rarely seen outside the realm of medical activity, is a particularly strong stimulus to the senses and thus serves as a connecting link within his work as a whole. Direct contact with blood can evoke a reaction of disgust and revulsion on the one hand, but also fascination and lust on the other. The myth of blood runs like a thread through various legends and religions, which clearly underscores the timeless volatility of the subject. One thing is certain: Blood is vital for both the human and the animal body. With his work, Nitsch strove to make life a sensual experience and therefore considered the use of real animal blood to be particularly suitable. He thus saw himself anchored in the tradition of Old Master painting, in which the poignant depiction of gruesome and cruel subjects was quite common. In his action theatre, the artist even went so far as to use real animal carcasses and have the participating actors disembowel them. This direct physical contact with the intestines was intended to be an intoxicating, ‘Dionysian-like event’ ² for both the actors and the spectators, so that their ‘excessive abreaction’ could sublimate itself ‘during the course of the play into the comprehension of colour’. ³
On 18 November 1960, Nitsch realised his 1. Malaktion (First Painting Action) in the Technical Museum in Vienna, in which the process of painting took place for the first time in front of an audience as a dramatic play. It was customary for all those participating in a painting action to wear white linen robes on which the traces of paint left during the physically excessive creative process remained visible. Some of the garments were subsequently selected and mounted on canvases as relics. Seven more painting actions followed until 1963, when the artist decided to take a break from his painting practice for ten years. He wanted to work more intensively on the further development of his Gesamtkunstwerk from action painting to a real event, the action theatre. The early painting actions, which emphasised the painting process as a performative act, are thus to be understood as a continuation of painting and a transition to Nitsch’s action theatre, which took place beyond the picture surface in space and time. For Nitsch, they were psychoanalytical processes, which he described within his oeuvre as a whole as the ‘visual grammar of action theatre on a picture surface’. ⁴
The exhibition focuses primarily on the works Nitsch realised from the 1990s onwards, when he once again turned increasingly to painting and used the entire colour spectrum within one and the same painting. In particular, the liturgical colours green, violet, and blue, as well as yellow and white, which can be associated with the Resurrection, were relevant for the artist. The colours were no longer only poured and splashed onto the canvas but were occasionally smeared on the picture surface as a thick and creamy paste with the fingers. In the process, the different layers of colour were vigorously rubbed into each other. The ecstatic painting movements gave rise to colour spaces that lend the canvas an unusual, relief-like haptic quality. The traces of fingers and feet pressed deeply into the colour paste during the working process bear witness to physical exertion and can be read as a sign of the unity of body and mind. It can be observed that, in his late painterly work, Nitsch increasingly reflected the nature surrounding him. His paintings became brighter, more luminous, and more varied in terms of colour. He skilfully concentrated the light of the colours in the paintings, which now appear intense, dynamic, joyful, and light.
During the 2021 Bayreuth Festival, Nitsch’s exploration of colour reached its climax. It was the last painting action that the artist performed in public before his death on Easter Monday of the following year. In order to scenically accompany a concertante version of Richard Wagner’s Die Walküre, he conceived a comprehensive painting action for each of the three acts with a team of sixteen actors. Hundreds of litres of paint poured over the stage, analogous to the powerful voices of the singers, whose black robes blended perfectly with Nitsch’s action aesthetic. Buckets of paint flowed down from large-format canvases onto the stage floor. Following the artist’s score, the sounds transformed into a radiantly lush splendour of colour. Conversely, the loud and powerful whipping of the paint onto the stage floor created a new image of its own. In the spirit of a Gesamtkunstwerk, the vision of which united Nitsch and Wagner, the publicly presented painting action and the raw form of colour and sound meant that the images of the Walküre were not based solely on external appearances, but also reached deep inside the individual spectators.
With the Orgies Mysteries Theatre, Nitsch left behind a work that, in its complexity, invites us to intensively register the most diverse emotions that life holds. Moments of shock, aspects of disgust, suffering, grief, and anger are deliberately included, for they are what make life complete in all its facets and also condition their opposite. Nitsch’s painting in particular is the colourful joy of existence, the visible essence in all things and beings, and the pleasure of sensuality. (© Julia Moebus-Puck)
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¹ Danielle Spera, Hermann Nitsch. Leben und Arbeit (Vienna 2005), p. 52 [translated].
² Carl Aigner, Hermann Nitsch. Die Farbenlehre des Orgien Mysterien Theaters (Vienna 2007), p. 69 [translated].
³Ibid., pp. 70f. [translated].